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Bedeutung des "Stand der Technik" für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit

Bedeutung des "Stand der Technik" für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit

Rechtsprechung
Patentrecht

Bedeutung des "Stand der Technik" für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit

(4A_541/2017 v. 8.5.2018)

I. Ausgangslage

Die A. AB ist Inhaberin des am 17. Juni 2015 unter anderem mit Wirkung für die Schweiz erteilten Europäischen Patents EP aaa (Fulvestrant formulation). Am 18. August 2015 stellte die B. AG beim Bundespatentgericht den Antrag, der schweizerische Teil des erwähnten Patents sei nichtig zu erklären. Diesem Antrag gab das Bundespatentgericht mit Urteil vom 29. August 2017 statt, hauptsächlich wegen Fehlens der erfinderischen Tätigkeit, weil die beanspruchte Erfindung sich für den Fachmann in naheliegender Weise bereits aus dem Stand der Technik ergeben habe.

II. Erwägungen

  • Gemäss Art. 7 Abs. 2 PatG bildet den sog. "Stand der Technik" alles, was vor dem Anmelde- oder dem Prioritätsdatum der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benützung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist (vgl. auch Art. 54 Abs. 2 EPÜ 2000). Er ist (neben der Neuheitsprüfung) auch Grundlage für die Prüfung der erfinderischen Tätigkeit. (E 2.2)
  • Der "Aufgabe-Lösungs-Ansatz" erlaubt ein strukturiertes Vorgehen zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit. Er geht davon aus, dass jede Erfindung einerseits aus einer technischen Aufgabe und anderseits deren Lösung besteht. Dabei wird (objektiv) die durch die beanspruchte Erfindung gelöste Aufgabe (i) vorab durch die Ermittlung des (einzigen) "Dokuments im Stand der Technik" beurteilt, welches der beanspruchten Erfindung am nächsten kommt. Anschliessend wird (ii) dieser nächstliegende Stand der Technik mit der beanspruchten Erfindung verglichen, wobei die strukturellen oder funktionellen Unterschiede im Einzelnen aufgelistet werden mit dem Ziel, die objektive technische Aufgabe zu formulieren, welche durch die beanspruchte Erfindung gelöst wird. Und schliesslich wird (iii) gefragt, welche Schritte der massgebende Fachmann vom nächstliegenden Stand der Technik aus unternehmen musste, um die erwähnte technische Aufgabe zu lösen. (E 2.2.1)
  • Das "Dokument im Stand der Technik" muss es dem Fachmann erlauben, den geoffenbarten Gegenstand aufgrund seines allgemeinen Fachwissens nachzuarbeiten. Im Rahmen dieser Ausführbarkeit muss er eine so deutliche und vollständige Anleitung erhalten, dass er aufgrund der Informationen und seines Fachwissens in der Lage ist, die von der Lehre vermittelte technische Lösung zuverlässig und wiederholbar praktisch auszuführen. (E 2.2.1 Abs. 2 i.V.m. E 2.2.2 erster Satz)
  • Wird in dem "Dokument im Stand der Technik" nur das Problem, nicht aber dessen Lösung aufgezeigt, ist die erforderliche Lehre nicht gegeben, sofern es sich nicht um eine massgebende Aufgabenerfindung (was hier kein Thema ist) handelt. (E 2.2.3 Abs. 1)
  • Im vorliegenden Fall hat die Vorinstanz den Begriff der Ausführbarkeit (bzw. der hinreichenden Offenbarung) hinsichtlich des Stands der Technik nicht richtig angewandt, indem sie davon ausging, es bedürfe in dem als Stand der Technik herangezogenen Dokument keiner konkreten technischen Formulierung, um die Offenbarung der im Dokument enthaltenen technischen Lehre bejahen zu können. Im hier ausschlaggebenden Dokument müsste eine technische Lehre bzw. mindestens eine Lösung der Aufgabe enthalten sein, die für den Fachmann sicher, wiederholbar, ohne zumutbaren (recte: unzumutbaren) Aufwand und ohne (eigene) erfinderische Leistung ausführbar ist. Dies wurde im angefochtenen Entscheidmangels (mindestens) einer konkreten (typischen) Formulierung – nicht aufgezeigt. (E 2.2.4 i.V.m. E 2.2.5)
  • Ausgehend von diesem unzutreffenden Begriff der Ausführbarkeit (Tolerierbarkeit des Fehlens einer konkreten technischen Formulierung, vgl. das Lemma hievor) des herangezogenen Dokuments im Stand der Technik hat die Vorinstanz zu Unrecht angenommen, das hier relevante Dokument im Stand der Technik offenbare dem massgebenden Fachteam eine ausführbare Lehre. Der angefochtene Entscheid ist daher aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie aufgrund einer objektiv zutreffenden Aufgabe (vgl. dazu Lemma 2 [ii] hievor) neu entscheide, ob das umstrittene Patent auf der verlangten erfinderischen Tätigkeit beruht. (E 2.3.5)
iusNet IGR 28.09.2018